Unser Bild von den Indianern
Bald nach der Entdeckung der »Neuen Welt« haben die Europäer die Bezeichnung »Indianer« erfunden. In ihrer verwirrenden Vielfalt und Widersprüchlichkeit wurden »die Indianer« für die Europäer rasch zum Inbegriff des »Anderen« – zum Gegenstück der eigenen Kultur im Guten wie im Bösen. Unser Bild vom Indianer geht bis in die Zeit zurück, als die ersten Zeugnisse indianischer Kulturen Europa erreichten. Am nachhaltigsten geprägt hat dieses Bild jedoch die Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts. Damals sah man im Indianer den Inbegriff eines edlen oder grausamen Kriegers. Heute passt sich unsere Vorstellung von den amerikanischen Ureinwohnern modernen Sehnsüchten und Träumen an. So halten wir sie beispielsweise für die Erfinder des Naturschutzes, der Demokratie und der Frauenrechte. Wenn wir an Indianer denken, haben wir meist einen Häuptling mit Federkopfschmuck vor Augen. Dieses Klischee wurde im 19. Jahrhundert geprägt, und zwar durch die ersten Fotografien von der indigenen Bevölkerung Nordamerikas. Aber auch durch Wildwestshows, die den Mythos vom berittenen Indianerkrieger beschwörten, der sich tapfer dem Kampf gegen die amerikanische Armee stellte. Die Begegnung mit den amerikanischen Ureinwohnern ließ die Europäer nicht unberührt. Ihre Einstellung ihnen gegenüber war immer zwiespältig: Einerseits wollten sie die Indianer von ihrem angestammten Land verdrängen und dem Lebensstil der westlichen Welt unterwerfen. Andererseits boten die Indianer eine Projektionsfläche für den Traum vom Leben in Einklang mit der Natur. Der Wunsch, einmal in eine andere Haut zu schlüpfen, fand seinen Ausdruck auch in den modischen Indianerkostümen der Weißen.
Der Mythos um Pocahontas: Pocahontas (1595–1617) hat tatsächlich gelebt. Sie war die Tochter des mächtigen Indianerhäuptlings Powhatan aus dem Bundesstaat Virginia. Ihrer Fürsprache bei den Briten verdankten die junge Kolonie Virginia und deren Anführer John Smith im politischen und im Wortsinne das Überleben. Als Gefangene der Engländer war Pocahontas zum Christentum übergetreten. Sie heiratete den englischen Witwer John Rolfe und wurde zum Dank für ihr politisches Engagement zugunsten der Engländer von der britischen Königin empfangen. Pocahontas’ Leben und Wirken wurde zu einem Mythos. Bereits zu ihren Lebzeiten hatte man sie porträtiert. Später wurden Hollywood- Filme über sie zu Kassenschlagern. Ein Theaterstück über das Leben von Pocahontas und John Smith hatte für den Stamm der Pamunkey nachhaltige Folgen. Seine Mitglieder identifizierten sich derart mit dem Theaterstoff, dass sie Teile der Aufführung in ihr Leben hineinnahmen. Sie benannten beispielsweise ihre Kinder nach den Figuren des Stücks und trugen die Fantasiekostüme der Bühneninszenierung auch bei festlichen Anlässen. Diese Versatzstücke einer vermeintlichen Indianerfolklore machten die Pamunkey in den Augen einiger weißer Amerikaner zu Vertretern des Indianertums schlechthin.
Die ersten Menschen Amerikas: Bis vor gut 50.000 Jahren v. Chr. war der amerikanische Kontinent komplett menschenleer. Die Archäologie lehrt uns, dass erst ab dieser Zeit dort Menschen einwanderten. Sie kamen aus Asien über die Beringstraße, und die Einwanderung vollzog sich in mehreren Schüben. In der Neuen Welt bildeten diese Menschen ganz unterschiedliche Lebensformen aus. Die Mythen der Urbevölkerungen erzählen hingegen durchwegs von einer Entstehung der Menschen in der Nähe ihrer heutigen Wohnorte. Die politisch korrekte Bezeichnung für die amerikanischen Ureinwohner lautet heute Native Americans (in den USA) und First Nations (in Kanada).
Der Korridor zur Neuen Welt: Während der letzten Eiszeit wuchs das Eis der Gletscher und Polkappen an. Dadurch senkte sich der Meeresspiegel um bis zu 120 Meter. Es entstand eine Landbrücke zwischen den Kontinenten Asien und Amerika, über die Großwildjäger dem Wild in die Neue Welt folgten.
Der Kennewick Man – einer der ältesten Menschen Nordamerikas: 1996 machten Archäologen am Ufer des Columbia River im Staate Washington einen sensationellen Fund: Sie entdeckten das Skelett eines Mannes, der vor über 9000 Jahren nahe der heutigen Stadt Kennewick gelebt hatte. Nach dem Fund bemühten sich die Bewohner einer nahegelegenen Reservation um die Rückgabe des Skeletts. Sie glaubten, es handele sich um einen Vorfahren und wollten ihn wieder bestatten. Die Rückgabe wurde jedoch verweigert. Sah so der Kennewick Man aus? Als das Gesicht des Kennewick Man rekonstruiert wurde, erregte dies großes Aufsehen. Das Interesse für den Kennewick Man war bereits durch den Rechtsstreit um seine Rückgabe angeheizt worden. Nach der Rekonstruktion gab es eine heftige Debatte über sein nicht-indianisches Aussehen. Einige Zeitungsleser glaubten, in der Rekonstruktion ihren Nachbarn zu erkennen, andere wiederum meinten, darin das Gesicht Captain Picards aus Star Trek ausmachen zu können.