Entgegen aller Erwartungen haben die Ureinwohner Nordamerikas bis ins 21. Jahrhundert überlebt – heute zählt man in den USA und Kanada mehr ihrer Nachkommen als fast je zuvor in der Geschichte. Bei allem Stolz auf ihre Tradition, Identität und ihr kulturelles Erbe sind die Veränderungen, die ein halbes Jahrtausend des Kontakts mit der westlichen Welt und die Folgen der Globalisierung mit sich bringen, nicht spurlos an ihnen vorübergegangen – aber auch nicht an uns selbst. Mit ihren Vorfahren haben die heutigen indigenen Bevölkerungen so viel gemeinsam wie wir mit dem Biedermeier. [the_ad id=”5006″][the_ad id=”5523″]
Wo leben heute die meisten Indianer? Dem weltweiten Trend folgend, zieht es die indigene Bevölkerung Nordamerikas zunehmend in Städte. Im Jahr 2000 hatten zehn Städte in Kanada sowie zehn Städte in Nordamerika jeweils mehr als 10.000 indianischstämmige Einwohner. Etwa gleich viele leben jeweils in Grönland sowie in gut zwölf Reservationen in den USA. Hingegen konzentriert sich der indigene Landbesitz auf den dünnbesiedelten Norden und Westen Amerikas.
Rückbesinnung auf die Tradition: Die Zunahme der indianischstämmigen Bevölkerung Nordamerikas hatte in den letzten 30 Jahren zwei wesentliche Ursachen. Zum einen sind indigene Familien meist relativ kinderreich. Zum anderen gab es immer mehr Menschen indigener Herkunft, die sich vergleichsweise nahtlos in die Mehrheitsgesellschaft integriert hatten, sich dann aber auf ihr Erbe besannen – und Anschluss an indigene Lebensgemeinschaften suchten.
Vielfalt und Identität: Bis heute lebt die Mehrzahl der indigenen Bevölkerung Nordamerikas in Stammesgemeinschaften, deren unterschiedliche Überlieferung und historische Prägung die Ursachen für eine anhaltende kulturelle Vielfalt sind. Trotz dieser Unterschiede bildeten die Mitglieder der indigenen Stämme unter dem Eindruck einer bis in die Gegenwart reichenden kolonialen Erfahrung eine neue Identität als »Indianer« aus. Heute sind die Ureinwohner Nordamerikas pluralistische Gemeinschaften mit unterschiedlichen Werten und Lebensstilen. Was sie vereint, ist das gemeinsame Erbe ihrer doppelten Identität – der ihres eigenen Stammes und der als »Indianer«.
Indigene Völker und Nationalstaaten: Das Leben der indigenen Bevölkerung Nordamerikas ist heute von einem grundsätzlichen Widerspruch geprägt. Einerseits leben ihre Mitglieder in verschiedenen Nationalstaaten und sind als solche Bürger dieser Staaten – mit allen zivilen Pflichten und Rechten. Andererseits gelten die Stämme rechtlich immer noch als »einheimische abhängige Nationen«, was mit einer Einschränkung ihrer Rechte verbunden ist. Als ursprüngliche Besitzer des Landes verfügen die indigenen Völker über besondere Rechte, als Bürger fühlen sie sich oft benachteiligt und diskriminiert.
Mobilität: Bevor die Europäer die Neue Welt entdeckten, lebte ein Teil der indianischen Völker dort als Nomaden. Diese Lebensweise war aus Sicht der Europäer eine unstete und wurde als Vorwand benutzt, um bäuerliche Sesshaftigkeit als nötige Grundlage für »Zivilisation« und Integration anzusehen und damit ihr Recht auf Landbesitz anzuzweifeln. Heute verlangt man von den Bewohnern der Reservationen das Gegenteil: Sie sollen möglichst mobil sein, um der Armut in den Reservationen zu entkommen und sich anderswo Arbeit zu suchen. Und so ist heute für die indianischstämmige Bevölkerung das, was früher das Pferd war, das Auto. Beide waren ursprünglich absolute Neuheiten, und beide wurden zu einem Symbol für die indianische Lebensweise.